»bei dem verrückten modernen haus seid ihr richtig« – hat heide bernard ihren patienten als orientierungshilfe für den weg in ihre zahnarztpraxis angegeben.
als verrückt würde man das 1977 gebaute wohnhaus plus arztpraxis heute wohl nicht mehr bezeichnen, aber mit seinen verschieden großen pultdächern für die getrennten wohn- und ordinationsräume, den unterschiedlich hohen mauern, rundungen und nischen wirkt es von außen eher wie ein separates kleines dorf in einer hügelmulde am ortsrand von gaimberg, und nimmt doch auch bezug auf das bauernhaus und die heuharfe nebenan.
wer hier zu besuch kommt, muss durch die »thermopylen«, so nennt der hausherr die schmale gasse, die wohnbereich und ordination durch eine hohe mauer voneinander trennt. ungesehen kann sich hier keiner nähern, von der diele aus hat man einen guten überblick über diesen eingangsschlitz.
»die leben ja in den katakomben«, war damals die meinung mancher spaziergänger angesichts dieser mehrfach gestaffelten, nach außen sehr geschlossenen anlage. deren ausgezirkelter, ausgefallener raumplan erschließt sich im inneren, beim wandern von der küche mit vorplatz zum angeschnittenen zylinder des essraums in den 3 stufen tiefer liegenden wohnraum. keine rede ist hier von bunkerstimmung, stattdessen ist der einfall des sonnenlichts raffiniert entsprechend der lage des raumes geplant. studiert bei altmeister othmar barth, und ebenso exakt geplant sind von zimmer zu zimmer die ausblicke auf die jeweiligen abschnitte der landschaft, der lienzer dolomiten. vom schlafzimmer aus können die bauherrn den adler beobachten, wenn er über dem gebirge kreist.
ein nettes, kleines geheimnis verbirgt die rückversetzte fassade im schlafzimmertrakt im 1. stock: was da von unten gesehen den anschein bäuerlich kleiner fensterchen, wenn nicht gar von katakomben erweckt, entpuppt sich oben als einschnitt, als balkon zwischen den verschieden hohen bauteilen, mit großen fenstern in den anschließenden zimmern. ecken und ausbuchtungen der räume schaffen rund ums haus nischen, windgeschützte plätze, die genutzt werden können je nachdem, ob man gerade lieber in der sonne oder im schatten sitzen mag. ein terrain voller überraschungen ist dieses haus der familie bernard in gaimberg, lichteinfall, blickwinkel, stille nischen, weite räume, alles ändert sich von zimmer zu zimmer, nichts entspricht konventionellen erwartungen. fragt man heute im ort nach dem »verrückten haus«, weiß niemand mehr, wovon da die rede ist.
vielleicht ist die autochthone architektur leichter durch jene objekte zu charakterisieren, die sich nicht in einer vom menschen geschaffenen urbanen umgebung befinden, sondern in der landschaft. hier wurzelt das gebäude im physischen ort und erhält seine bedeutung aus dieser beziehung. dieser aspekt kommt besonders im entwurf des hauses dr. bernard [...] zur geltung, wo weiße mauern das hügelige gelände des bauplatzes durchschneiden und schluchten und gassen bilden, welche die unterschiedlichen bereiche des hauses von der straße aus erschließen.
zehra kuz
in: »autochthone architektur in tirol«
